03. September - 01. Oktober 2021
Künstlerin: Katharina Ingwersen
Titel: "Directions for bringing over Seeds and Plants from distant Countries (6,50€)"
In der Arbeit „Directions for bringing over Seeds and Plants from distant Countries (6,50 €)“ stehen sich eine einzelne, handgefertigte Keramikskulptur und eine unzählbare Menge an massenproduzierten, kleineren Objekten gegenüber. Sie alle verbindet das Motiv des Füll- horns, welches nicht nur durch die sich gleichenden, kleinen Objekte abgebildet wird, sondern auch in der Form der Keramikskulptur wiederkehrt.
Im Rahmen der Little Window Galerie wird ein Ausschnitt dieser Arbeit präsentiert. Schlüs- selringe und Verpackung der in Reihen angeordneten, kleinen Füllhornobjekte weisen die ge- zeigten Anhänger als Souvenirs und Verkleinerungen eines Originals aus. Sie stehen als mas- senhafte Reproduktionen so in einem Spannungsverhältnis mit einem vermeintlich originalen Kunstwerk.
Wie Souvenirs können auch die Schlüsselanhänger während der Ausstellung durch Besucher*innen käuflich erworben werden. Da sie später beispielsweise als tatsächlicher Schlüsselanhänger re-inszeniert oder nach einiger Zeit zufällig in einer Schublade wiederge- funden werden, findet bei der Aneignung des Souvenir gewordenen Ausstellungsstücks eine doppelte Bedeutungsinvestition statt. Im Andenkenobjekt wird eine vergangene Geschichte konzentriert und diese gleichzeitig auch wieder für die Zukunft bereitgestellt. Durch die Erin- nerungsfunktion des Objekts findet eine Verschiebung eines klar umrissenen Gegenstands (als Abbildung von etwas) zu einer intimen Geschichte statt, deren narrativer Kern durch den Akt des Andenkens nachempfunden wird. Der Erinnerungswert eines Souvenirs kann dadurch den tatsächlichen Objektwert übersteigen. Dieser kann aber ohne genauere Erzählung der Besit- zer*in rätselhaft bleiben. Gleichzeitig befindet sich das Souvenir permanent in einem Span- nungsfeld von kommerziell angefertigtem Objekt, welches als Souvenir anerkannt wird, und dessen intimer Prägung durch den individuellen Kaufprozess.1 Im Souvenir versteckt sich hin- ter dem vordergründigen, fremden Anderen, dessentwegen es scheinbar gekauft wird, die Kul- tur und Lebenswelt der Tourist*in. Souvenirs, die als Abbildung von etwas in der Fremde er- worben werden, zeigen dadurch ebenso auf, welche Orte und Dinge von den Tourist*innen als sehenswert definiert werden.2
Das Motiv in Kombination mit dem Titel verweist auf die Reisetraditionen der „Grand Tour“ im 16.–18. Jahrhundert, bei denen vornehmlich junge Adelige aber Kaufleute und Künstler*innen zur Vollendung ihrer Bildung quer durch Europa nach Italien reisten. Der westliche Gedanke des unantastbaren Originals ist historisch auf diese Zeit zurückzuführen und hängt mit der Musealisierung der Vergangenheit zusammen, welche für die ersten Tou- rist*innen der Grand Tour vorangetrieben wurde. Um den Erkenntniswert der alten Bau- und Kunstwerke zu erhalten, wurden Eingriffe in sie zunehmend abgelehnt, da sie in ihrem Origi- nalzustand größeren Ausstellungswert besaßen.3
Der Titel der Arbeit ist der Apodemik „The Naturalist’s and Traveller’s Companion“ (1772) von John Coakley Lettsom entnommen.4 Apodemiken etablierten sich in der Zeit der Grand Tour als eigene literarische Form und können als Vorgänger heutiger Reiseführer betrachtet werden. Die Apodemiken klärten Reisende darüber auf, wie man „richtig“ reiste und was auf der Reise zu beobachten oder mitzunehmen war. Die apodemisch vorgefertigten Reisen und die Reiseberichte, welche daraus entwickelt und später in gedruckter und gestochener Form einem breitem Publikum bereitgestellt wurden, führten zu einer Standardisierung der Reise- praxis und transformierten das Reisen zu einem Abklappern von aus der Ferne identifizierten Sehenswürdigkeiten.5
Während keine Beschreibungen darüber vorliegen, wann und wie sich das Motiv des Füll- horns in Europa verbreitet hat, ist gut vorstellbar, dass es in Form jener Reisedokumentatio- nen oder auch Abbildungen auf Souvenirs mitgebracht wurde. In der Arbeit stellt sich ent- sprechend die Frage, ob neben den kleinen Anhängern nicht etwa gleichermaßen auch das vermeintliche Original ein Souvenir darstellt.
1 Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (2006). Der Souvenir: Erinnerung in Dingen von der Re- liquie zum Andenken. Köln: Wienand Verlag.
2 Thurner, Ingrid (1994). „Kunst für Touristen: Die Welt der Reisenden im Souvenir.“ Soziologus 44 (1): 1–21.
3 Han, Byung-Chul (2011). Shanzhai: Dekonstruktion auf Chinesisch. Berlin: Merve Verlag.
4 Lettsom, John Coakley (1772). The Naturalist’s and Traveller’s Companion. London.
https://books.google.de/books?id=83RbAAAAQAAJ.
5 Stagl, Justin (1983). „Das Reisen als Kunst und Wissenschaft (16.–18. Jahrhundert).“ Zeitschrift für Ethnologie 108 (1): 15–34.
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